Mittwoch, 21. Oktober 2015
Ich bewerbe mich (I)
Ich hatte ja schon erwähnt, daß mich mein Berater aus dem ersten Gespräch mit einem Vermittlungsvorschlag und der Auflage entlassen hatte, meine Bewerbung auf diese Stelle zu dokumentieren.
Meine Reaktion auf diese Verpflichtung war zwiespältig: Zum einen frappierte mich die Tatsache, daß er so umstandslos ein Stellenangebot gefunden hatte, mit dem er die Ernsthaftigkeit meiner vollmundigen Einlassung, ich würde mich deutschlandweit auf die Suche machen, überprüfen konnte. Da er ja meine Einschränkung, daß ein Ortswechsel natürlich nur dann zur Debatte stünde, wenn die in Aussicht stehende Stelle auch einen solchen Aufwand rechtfertigte, geflissentlich überhört hatte, befand ich mich nun in einer misslichen Situation: Denn für einen Lehrerjob, noch dazu an einer Reformschule wollte ich mich keinesfalls von einer westdeutschen Metropole in die ostdeutsche Provinz begeben. – Wollte ich nicht? Warum eigentlich? Die Stadt Greiz, die sich vollmundig als Perle des Vogtlandes preist, schien nach allem, was das Internet hergab, mit einer gehörigen Portion Lebensqualität aufwarten zu können: Landschaft satt und sanierte Altbauwohnungen zu ausgesprochen vernünftigen Preisen – sollte da das fehlende Rudergewässer tatsächlich den Ausschlag geben? Blieb nur noch die Sache mit der Reformschule. War ich Reform? Eigentlich eher nicht. Nach den Enthüllungen aus der Odenwaldschule, dachte ich bei „Reformschule“ nur noch an Mißbrauch. Das war natürlich ebenso ungerechtfertigt wie ungerecht und wenn ich es recht bedachte, hatte ich gegen unser staatliches Schulsystem doch so vieles einzuwenden, daß vielleicht gerade eine Reformschule der richtige Ort für mich sein mochte. Andererseits: Gemeinsame Renovierungsarbeiten und gruppendynamisches Tralala mit den Eltern – das klang eher beunruhigend... Trotzdem war mein Interesse geweckt. Warum nicht etwas Neues versuchen! Da das Stellenangebot allerdings nicht mehr auf der website der Schule zu finden war, wollte ich auf jeden Fall dort vorher anrufen, ehe ich meine Unterlagen schickte. Nun waren noch Sommerferien, entsprechend schwierig gestaltete sich die Kontaktaufnahme. Als ich dann endlich jemand erreichte, war ich ebenso erleichtert wie enttäuscht: Das Angebot nicht mehr aktuell war.
So oder so konnte ich dem Amt guten Gewissens melden, daß diese Bewerbung sich erübrigt hatte. Was aber nun? Ich sollte ja Eigenbemühungen nachweisen. Eigenbemühungen? Hatte ich vor, mich eigenzubemühen? Der bloße Gedanke, mich auf Stellensuche zu machen, bereitete mir Unwohlsein. Ich begann doch gerade erst, mich mit dem Nichtstun anzufreunden. Genauer: Weil ich Erwerbsarbeit schon immer irgendwie als unwürdig empfunden habe, genoß ich es, endlich wieder meine Tage so verbringen zu können, wie es meinen ureigensten Interessen entsprach. Außerdem scheute ich natürlich die Enttäuschung, die damit verbunden sein würde, einzusehen, daß meine Qualifikation, die ich in jahrzehntelangem Studium erworben hatte, auf dem Arbeitsmarkt nicht nachgefragt wurde und folglich wertlos war. Aber es half natürlich nichts: Zwar bewahrte mich das Arbeitslosengeld für ein knappes Jahr vor dem Verhungern, doch insgesamt war das, was ich da ausgezahlt bekam, nicht das, was ich fürs Leben zur Verfügung haben wollte. Früher oder später war also eine erneute Arbeitsaufnahme unvermeidlich. Und dann war da ja noch die Sache mit dem Eigenbemühungsnachweis.



Freitag, 9. Oktober 2015
Das Leben in der Arbeitslosigkeit
Man sollte meinen, Arbeitslose hätten mehr Zeit als andere Menschen, schon weil sie nicht acht oder mehr Stunden des Tages an einen Arbeitsplatz gebunden sind. Es geht ihnen aber wie den Rentnern: Schon die Verwaltung des Nichtstuns erfordert so viele Gänge zu Ämtern und Behörden, Recherchetätigkeit für das Ausfüllen von Formularen sowie die Durchforstung des Internets auf der Suche nach möglichen Stellenangeboten, daß die Tage arg fragmentiert werden. Außerdem fühlt sich die Umgebung bemüßigt, einem alle nur denkbaren Erledigungen aufzutragen – man hat ja jetzt Zeit.

Aber ich möchte mich nicht beklagen. Am Ende bleiben immer noch etliche Stunden des Nichtstuns – und die sind das eigentliche Problem: Denn jeder, der sich in einer solchen Situation befindet, weiß natürlich, daß die Arbeitslosigkeit kein Dauerzustand sein darf. Sie muß so schnell wie möglich beendet werden, weil der Zeitpunkt, an dem man in die Armut entlassen wird, unbarmherzig näherrückt.

Folglich ist es eben nicht möglich, sich zurückzulehnen und mit Muße all' jenen Dingen nachzugehen, die liegengeblieben sind, solange man noch gearbeitet hat - auch wenn es zuerst den Anschein gehabt haben mag. Das Bewußtsein, seine bürgerliche Existenz nur noch auf Widerruf zu besitzen, treibt zur Aktivität.

Was aber kann man machen, nachdem man sämtliche Jobbörsen abgegrast hat und feststellen mußte, daß es wieder keine einzige Stelle gibt auf die man sich bewerben könnte? Man beginnt, sich Gedanken zu machen. Denn die Zeit läuft. Noch x Monate, bis Hartz IV. Was, wenn es dazu kommt? Muß ich die Wohnung aufgeben? Und weil es keinen Sinn hat, die gleichen websites im Stundenrhythmus zu durchsuchen, weil man die Zeit bis zum Gerichtstermin nicht verkürzen kann, weil man Bewerbungsprozesse nicht beschleunigen kann, sitzt man da – und wartet. Und macht sich weiter Gedanken, wie das Leben aussehen wird, wenn sich nichts ereignet, das zu einer Veränderung der Lage führt.

So kreist das Denken unentwegt, um die ewig gleichen Fragen. Und weil die Zeit, gemessen am Denken, so langsam vergeht und es noch Stunden dauert, bis es wieder Sinn hat, nach neuen Stellenangeboten zu suchen und weil es noch Wochen dauert, bis endlich der Termin beim Arbeitsgericht ist und weil sich das Denken mit jeder Minute, die vergeht, immer mehr auf die existenziellen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit konzentriert, schwindet auch die letzte Möglichkeit, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden.

Das bedeutet aber nun gerade nicht, daß man sich irgendwann an diesen Zustand gewöhnt und die Bedrohlichkeit dieser Gedanken nachläßt. Vielmehr hindert einen die Dringlichkeit dieser Fragen daran, überhaupt noch zur Ruhe zu kommen. Wenn es abends dunkel wird und Stille einkehrt, sitzt man mit stierem Blick da und versucht dem Kreislauf der immer gleichen Gedanken zu entkommen. Der Versuch, etwas zu lesen, scheitert an der Unmöglichkeit, sich zu konzentrieren. Fernsehen, der Konsum des größten Stumnpfsinns, den die Menschheit hervorgebracht hat, lenkt immerhin so lange ab, bis einem die Augen zufallen. Doch spätestens wenn man im Bett liegt, ist man wieder hellwach. Erschlagen, aber hellwach, wippt nervös mit dem Fuß und beginnt erneut zu kreisen.

Die einzige erfolgreiche Strategie, ist die Sedierung mittels Alkohol. Sie läßt das Denken innehalten und ermöglicht einige Stunden Schlaf am Stück. Fordern und fördern. – Es ist der reine Hohn! Letztlich geht es darum, die Ohnmacht des Einzelnen so spürbar zu machen, daß er jeden Widerstand aufgibt und sich willig zur Erledigung jener Aufgaben beordern läßt, die am Arschende der Gesellschaft anfallen, damit die happy few von der Wirklichkeit nicht zu sehr belästigt werden.



Donnerstag, 6. August 2015
Erste Maßnahme: Selbstvermarktung für Akademiker – Welcome to the machine
Ich hatte oben schon erwähnt, daß ich zusammen mit der Wiedereingliederungsvereinbarung eine Einladung zu einer Maßnahme von meinem Berater bei der Arbeitsagentur erhalten hatte. Diese fand in einer Sprachschule statt und sollte meine Fähigkeit zur Selbstvermarktung optimieren. Da ich in dieser Sache vollkommen ungeübt war, weil ich noch niemals vor der Notwendigkeit gestanden habe, mich vermarkten zu müssen, bestand da sicher ein gewisses Potential. Trotzdem war ich skeptisch. Ich mochte einfach nicht glauben, daß mein größtes Problem meine Unfähigkeit zur Selbstvermarktung war.. Sei's drum! Gemeinsam mit einer Gruppe von Leidensgenossen fand ich mich zum angekündigten Termin in einem trostlosen, halb leerstehenden Bürogebäude in Bahnhofsnähe ein.

Zwei Wochen haben wir jeden Tag von 8:45 bis 15:30 hier miteinander verbracht: Zehn Menschen die dadurch miteinander verbunden waren, eine „Einladung“ der Bundesagentur für Arbeit erhalten zu haben. Eine Einladung, der nicht Folge zu leisten zumindest für einige von uns Schikanen und Sperrzeiten bedeutet hätte.

Denn auch das hatten wir gemeinsam: Keiner von uns ging zu dieser Zeit einer Erwerbstätigkeit nach, alle bezogen Geld vom Staat, alle waren Akademiker.

Da schien es nahezuliegen, daß wir lernen uns selbst zu vermarkten. Aber warum eigentlich? Offensichtlich ging man davon aus, daß Arbeitslosigkeit auf unserem Bildungsniveau weder durch mangelnde Fähigkeiten, noch durch fehlende Motivation erklärt werden kann und in der Tat war der überwiegende Teil der Anwesenden aufgrund von Umstrukturierungen, Strategiewechseln u. ä. arbeitslos. Eine Frau wollte nach dem Ende der Elternzeit wieder arbeiten gehen, ein Mann suchte nach einer selbstgewählten Zäsur die beste Möglichkeit zum Wiedereinstieg.

Die Qualität hatten wir also. Was uns fehlte, war die Fähigkeit, diese einem potentiellen Arbeitgeber zu vermitteln. Das klang so gut, daß man sich gewünscht hätte es wäre wahr. Denn dann hätte der dreifache Familienvater z. B., der auf eine reichhaltige Erfahrung in seinem Beruf zurückblicken konnte, aber dennoch schon fast ein Jahr ohne Stelle war, endlich wieder tätig werden können.

Also lernten wir, wie wir uns präsentieren sollten, um das Interesse eines Arbeitgebers zu wecken. Wir optimierten Anschreiben und Lebensläufe, übten, wie wir uns in Vorträgen von drei Minuten Länge in einem möglichst vorteilhaften Licht erscheinen lassen und diskutierten, mit welchen sprachlichen Formulierungen wir unseren Gesprächspartnern in einem Vorstellungsgespräch die geringstmögliche Angriffsfläche bieten würden. Denn egal was wir sagen könnten, es würde gegen uns verwendet werden. So wurde uns sofort klar: Bei der Rekrutierung von Arbeitskräften feiert der Sozialdarwinismus fröhliche Urstände: Nur die Stärksten überleben, Schwäche wird erbarmungslos bestraft – und wer mit einer Antwort nur einen Moment zögert, hat ohnehin verloren.

Daher: Denke nicht – handle! Lerne leiden, ohne zu klagen! Du bist nichts – der Betrieb ist alles! Makellos in der Erscheinung, unbeugsam im Willen auch das letzte für die Firma zu geben und stets auf der Suche nach einer Möglichkeit noch besser zu werden: Das war das Bild, das wir unserem möglichen zukünftigen Arbeitgeber mit unserem Auftritt vermitteln sollten.

Die meisten von uns hatten damit Probleme. Sie wählten ungeschickte Formulierungen, verhaspelten sich und vergaßen wichtige Fakten. Einigen wenigen jedoch gelang das von Anfang an erstaunlich gut: Sprachlich gewandt ratterten sie ihre Fähigkeiten, Erfahrungen und Erwartungen herunter, ohne daß dem Zuhörer auch nur der Hauch eines Zweifels gestattet wurde, es möchte sich hier die geringste Übertreibung eingeschlichen haben.

Dann beschäftigten wir uns mit den Arbeitszeugnissen. Auch hier zählt nur das Optimum, gibt es nur hohes, höchstes und allerhöchstes Lob und Zufriedenheit. Doch wehe, es fehlt ein Punkt oder es befindet sich ein Fleck auf dem Papier. Dann könnte dieser ein geheimes Zeichen des bisherigen Arbeitgebers an den künftigen sein, daß in Wahrheit die Sache sich ganz anders verhalten habe und der Herr XY tatsächlich ein unglaublich fauler Hund gewesen sei, dessen man sich nur zu gerne entledigt habe. So etwas klingt zwar zunächst lustig, vielleicht auch albern und es trägt gewiß auch Züge geheimdienstlicher Abenteuer in sich. Aber bei Licht betrachtet ist es eher traurig und ein Zeichen dafür, wie problematisch das Verhältnis der Arbeitgeber zu ihren Angestellten sich gestaltet. Wahrscheinlich ist es das Wissen um die Abhängigkeit, in der sich jene befinden (vielleicht aber auch die Einsicht in die eigenen Motive), das den messerscharfen Schluß nahelegt, es sei ihnen alles zuzutrauen.

So oder so, das lernten wir, muß der Bewerber einen Parcours durchlaufen, der an Fallstricken reich ist. Von der schriftlichen Bewerbung über Telefoninterviews und Erst- sowie Zweitgespräche bis zur Gehaltsverhandlung gibt es keinen Moment, in dem der zukünftige Mitarbeiter nicht auf die Probe gestellt und unter Druck gesetzt würde.

Was das für die Kandidaten bedeutet, konnten wir bei den Rollenspielen in unserer Gruppe sehen: Obwohl es hier um nichts ging und der Dozent sich alle Mühe gab, jedem mit Wertschätzung zu begegnen und Unterstützung in jeder Lage anzubieten, waren wir durch die Bank aufgeregt. Gerötete Gesichter, tremolierende Stimmen, nervös zitternde Hände, die aneinander Halt suchen – das Spektrum der Zeichen innerer Erregung war weit. Wer das Glück hatte, all' das erfolgreich kaschieren zu können, hörte immerhin noch das Dröhnen des eigenen Pulses.

Für die Beobachter war dies ebenfalls ein zwiespältiges Vergnügen. Denn es tauchten Fragen auf: War ich ebenso überzeugend? Habe ich nicht auch diese Unsicherheit gezeigt? Konnte ich die Fehler aus der ersten Runde vermeiden? Schlichen sich dafür neue Fehler ein? Und schließlich: Kann ich mit einer ebenso makellosen Biographie aufwarten? Habe ich genügend Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen, um mithalten zu können? Stehe ich nicht ohnehin schlecht da, gegenüber Bewerbern, die nicht arbeitslos sind? – Es ist erstaunlich wie sehr man schrumpft, wenn man sich mit den Augen eines „Personalers“ sieht! – – –

Spätestens am zweiten Tag unserer Maßnahme regte sich Widerwillen gegen das Verfahren als solches in mir. Ich war zuvor noch nie mit dem Arbeits(vermittlungs)markt in Berührung gekommen und nun, da meine Intuitionen, meine vagen Ahnungen und mein Halbwissen zu Gewißheiten wurden, da geronn jenes diffuse Gefühl der Entfremdung, das ich diesem gegenüber hegte, zu der Einsicht, daß ich insgesamt und absolut inkompatibel bin zu dieser Sphäre des Mißtrauens, der Selbsterniedrigung und – der Verlogenheit.

Als ich im Vorfeld der Maßnahme im Gespräch mit Bekannten meinen Unmut über die zwangsweise Verpflichtung durch die Arbeitsagentur geäußert hatte, war mir geraten worden, in ihr eine Chance zur Selbsterkenntnis und zur Reflexion bezüglich meiner Positionierung am Arbeitsmarkt zu sehen. Diesen Rat habe ich beherzigt. Doch ich glaube nicht, daß die Arbeitsagentur über das Ergebnis glücklich ist.