Mittwoch, 5. August 2015
Das Für und Wider
Nach dem Gütetermin war ich so schlau wie vorher. Das, was ich an Erkenntnis erwartet hatte, daß nämlich der Richter eine Einschätzung bezüglich der Erfolgsaussichten meiner Klage abgeben würde, hatte ich nicht erhalten. Immerhin hatte er das Land beauftragt, zu meinen Vorwürfen Stellung zu nehmen und nicht mich, diese zu belegen. Das war wohl ein Indiz. Aber war das ausreichend, das Risiko eines Prozesses zu schultern?

Ich schlief jetzt schlechter. Oft war ich schon in den frühen Morgenstunden wach und fühlte mich dann den ganzen Tag über wie gerädert. Die Stellungnahme des Landes, die ich nach gut vier Wochen erhielt, war auch nicht geeignet, das zu ändern. Zwar wußte ich, daß Klappern zum Handwerk gehört und es in juristischen Auseinandersetzungen eben nicht darum geht, einen Konflikt konsensuell zu lösen. Trotzdem empörte mich die schroffe bis ignorante Ablehnung meiner Geltungsansprüche. – Ich empfand wohl ähnlich, wie z. B. religiöse Menschen beim Anblick vermeintlich blasphemischer Karikaturen. Nur daß bei mir keine Glaubenssätze verletzt worden waren, sondern die Prinzipien kommunikativer Rationalität.

Immerhin: Die Auseinandersetzung mit den Argumenten des Landes gab mir so etwas wie eine Aufgabe. Ich hatte mich nach den ersten Gesprächen mit meinem Anwalt schon mit den höchstrichterlichen Entscheidungen zum Teilzeitbefristungsgesetz auseinandergesetzt. Und auch wenn ich die Sprache, in der die Urteilsbegründungen abgefaßt waren, zunächst als sehr anstrengend empfunden habe, konnte ich doch nach kurzer Zeit, dem Scharfsinn, mit dem hier Sachverhalte in Beziehung zu Rechtsnormen und -gütern gesetzt wurden, etwas abgewinnen. Der Positivismus, der in jeder sprachlichen Wendung sichtbar wurde, war faszinierend. Hier wurde auf höchstem Niveau argumentiert, ohne daß je etwas in Frage gestellt wurde. Prinzipiell war alles klar und einfach. Es kam nur darauf an, die richtige Zuordnung herzustellen.

Das mußte ich nun auch lernen. Wenn meine Sache Erfolg haben sollte, mußte es mir gelingen, ausgewählte Sachverhalte meiner Tätigkeit so darzustellen, daß deren Widerspruch zum gesetzlich Zulässigen offensichtlich wurde. Natürlich wurde diese Arbeit im Kern von meinem Anwalt geleistet. Da er aber unmöglich die Details meiner Tätigkeit aus den Arbeitsverträgen erschließen konnte und ihm die schulinternen Prozesse naturgemäß unbekannt waren, mußte ich ihm die Fakten so aufbereiten, daß er damit arbeiten konnte. Also habe ich seine Entwürfe dahingehend überprüft, ob sie möglicherweise mit Dingen, die bisher nicht zur Sprache gekommen waren, in Widerspruch standen. Auch habe ich Vorschläge für weitere Argumente gemacht, wenn ich den Eindruck hatte, aufgrund meiner genaueren Kenntnis der Tatsachen etwas zu sehen, das ihm verborgen geblieben war. Dabei handelte es sich zumeist um Aspekte, die auch mir bisher nicht aufgefallen war, weil ich die Dinge mental nach ihrer inneren Widersprüchlichkeit und ihrem moralischen Empörungspotential stratifiziert hatte, nicht nach ihrer juristischen Relevanz.



Dienstag, 4. August 2015
Der Gütetermin
Das Wort „Gütetermin“ ist irreführend, denn es ist nichts bei diesem Verfahren zu bemerken, was man im alltäglichen Sprachgebrauch mit dem Begriff „Güte“ in Verbindung bringen würde. – Das liegt wahrscheinlich daran, daß das formale Gerüst, dem die Handelnden sich zu fügen haben, der Güte keinen Raum läßt zu obwalten.

Bemerkenswert an diesem Termin war vor allem, daß mein Prozeßgegner, das Land, hier erstmals ein Gesicht bekam. Es war ein erschütternder Anblick: Die freudlosen Jahre in der Amtsstube hatten sich derart in die Physiognomie dieser Person eingegraben, daß es mir bitter aufstieß.

Viel unheimlicher war aber, daß dieser Mensch, entgegen dem ersten Anschein, eben kein kalter Technokrat war. Die Paragraphen, Verordnungen, Erlasse und Handreichungen, mit denen er tagtäglich arbeiten mußte, hatten offensichtlich sein Denken derart okkupiert, daß er die Sache persönlich nahm. Voller Unmut, geradezu angeekelt, nahm er zu meiner Sache Stellung. Es schien ihm unverständlich, warum ich glaubte, einen Anspruch auf eine dauerhafte Beschäftigung erworben zu haben: Jeder der vierundzwanzig Verträge, die ich unterschrieben hatte, besagte doch ganz eindeutig das Gegenteil.

Der Richter erkannte schnell, daß hier nichts zu holen war und setzte einen Termin für die Verhandlung an.



J'accuse (Teil 2)
Je näher der Gütetermin rückte, desto unsicherer wurde ich, ob es sinnvoll sein könnte, dort ohne juristischen Beistand zu erscheinen – auch wenn dies prinzipiell möglich war. Daher suchte ich zwei Wochen vor dem Termin einen Arbeitsrechtler auf, der mir im Bekanntenkreis empfohlen worden war.

Der Mann war eine gute Wahl: Kompetent, gutgelaunt und nie um einen respektlosen Witz verlegen – wir hatten von Anfang an eine gute Basis, auf der wir zusammenarbeiten konnten. Aber wollte ich das überhaupt? Wollte ich nicht eigentlich nur diesen Gütetermin abwarten und dann erst weitersehen? Zumal da ja immer noch das Problem mit der Finanzierung des Prozesses bestand: Keine Versicherung, zuviel Geld, um Prozeßkostenhilfe zu erhalten, aber wahrscheinlich zu wenig, um die Sache zu überstehen, ohne hinterher mittellos zu sein.

Andererseits schien der Weg, den ich nun zu gehen hatte geradezu zwingend vorgezeichnet, wenn ich seinen Ausführungen folgte. Womit ich nicht unterstellen möchte, daß er mich zu etwas überredete. Es war vielmehr so, daß die innere Logik in der Abfolge der verschiedenen Schritte so zwingend erschien, daß die Option, die Klage auf der Grundlage dessen, was beim Gütetermin herauskommen würde, zurückzuziehen, nicht sinnvoll war.

Ich ließ mich also darauf ein. Nachdem ich ihm einen groben Überblick über die Situation gegeben habe, ergänzte er die Klageschrift noch um einige Punkte, dann vertagten wir uns bis zum Termin.



Freitag, 31. Juli 2015
J'accuse (Teil 1)
Schon seit mindestens zwei Jahren vor meiner Freisetzung habe ich hin und wieder über die Möglichkeit nachgedacht, mich einzuklagen: Pressemeldungen über einschlägige Erfolge vor den Arbeitsgerichten ließen die Aussichten für eine solche Klage immer günstiger erscheinen. Daß ich es nicht versucht habe, hatte wesentlich drei Gründe: (a) ich war objektiv noch nicht lange genug dabei, um aus dem Wagnis eine einigermaßen sichere Sache zu machen (auch wenn ich in diesem kurzen Zeitraum eine sehr große Zahl an Verträgen erhalten hatte), (b) da ich keine Rechtsschutzversicherung hatte, scheute ich das finanzielle Risiko und (c) war mir natürlich klar, daß ich - sollte ich mit meiner Klage scheitern - nie wieder an einer (staatlichen) Schule würde arbeiten können.

Daß ich mich entgegen dieser drei Vorbehalte dann doch entschieden habe, gegen das Land zu klagen, hatte ebenfalls drei Gründe: einerseits ging es mir gegen den Strich, mich von einem Arbeitgeber derart schäbig behandeln zu lassen, andererseits wurde ich von vielen Menschen in meiner Umgebung ermuntert, mich wenigstens einmal beraten zu lassen - und am Ende war ich zu schwach, das Ganze wieder zu stoppen, nachdem ich den ersten Schritt gemacht hatte.

Dieser erste Schritt war die Inanspruchnahme der Rechtsberatung des Anwaltsvereins. Diese hochlobenswerte Institution hat ihren Sitz in einem der hiesigen Gerichtsgebäude. Täglich können hier Bürger, die sich den Gang zum Anwalt nicht leisten können, gegen eine geringe Gebühr Rat in juristischen Fragen erhalten. Die Beurteilung meines Falles war genau so, wie ich erwartet hatte: Die Anwältin, der ich gegenübersaß, war empört über den Umgang des Landes mit seinen Vertretungslehrern, erstaunt darüber, daß das ein Mensch überhaupt so lange mitmacht und bezüglich der Erfolgsaussichten einer Klage auf Weiterbeschäftigung ziemlich vorsichtig. Als sie hörte, daß ich die Kosten des Verfahrens selbst stemmen müßte, merkte sie auf: Da könnten recht erhebliche Beträge auf mich zukommen. Aber: Wenn ich die Klageschrift selbst vorbereitete und beim Arbeitsgericht einreichte, könnte ich für relativ geringes Geld zumindest eine Einschätzung meiner Sache im Rahmen eines Gütetermins erhalten – und dann immer noch entscheiden, ob ich ein Verfahren anstrengen wollte.

Mit den Hinweisen, die mir die Anwältin der Rechtsberatung gegeben hatte, setzte ich mich am folgenden Tag an den Computer, suchte die einschlägigen Seiten im Internet auf und hatte schließlich die entsprechenden Formblätter und Formulierungshilfen, um zur Tat zu schreiten. Als erstes fertigte ich eine Übersicht meiner Arbeitsverträge an. Das war der schwierige Teil der Arbeit, weil im einzelnen nicht immer offensichtlich war, welches Schriftstück sich an welches andere anschloß und welchen Gegenstand es konkret hatte: Es gab Arbeitsverträge, Änderungsverträge und Verlängerungen. Manche schlossen aneinander an, manche ersetzten ihren Vorgänger noch in dessen Laufzeit, einmal waren auch zwei Verträge auf ein und denselben Tag datiert, weil man anscheinend nicht in der Lage gewesen war, zwei Änderungstatbestände in einem Dokument zu vereinen.

In diesem Zusammenhang recherchierte ich erstmals, wen ich nach Vertragslage eigentlich vertreten hatte. Es war ein buntes Durcheinander: Ich hatte Englisch- und Französischlehrer ebenso vertreten wie Geschichts- und PoWi-Lehrer, hatte Kollegen aus der Biologie und der Chemie vertreten, aber auch Mathematik-, Erdkunde- und Kunstlehrer. Nur ein Sportlehrer war nie darunter gewesen, obwohl ich doch von Anfang an Sport unterrichtet hatte. Erst ganz am Ende – und das sollte mit Blick auf meine Klage zu einem Problem werden, hatte ich tatsächlich eine Ethiklehrerin vertreten, während ich Ethik unterrichtet hatte.

Man mag sich fragen, warum ich diese Vertretungspraxis nie in Frage gestellt hatte. Nun, ich hatte davon profitiert, denn nur auf diese Art und Weise war es meiner Schule möglich gewesen, mich weiter zu beschäftigen. – Hätte es mich früher interessiert, wäre meine Klage wohl eine sichere Sache gewesen.

Nachdem ich die Übersicht erstellt hatte, machte ich mich an die Formulierung der Klage. Dazu gab es ein Formblatt und einige Hinweise darauf, was unbedingt in der Klageschrift erwähnt werden müsse.

Die Rechtspflegerin, bei der ich mit diesen Unterlagen vorstellig wurde, war zunächst vollkommen unbeeindruckt. Gelangweilt hörte sie sich mein Anliegen an und blätterte dann in einer zerlesenen Ausgabe der einschlägigen Gesetze herum, um zu erkunden, auf welcher Grundlage und mit welchen Argumenten sich eine Klage formulieren ließe.
Ich nutzte die Zeit und sah mich um. Das Büro der Rechtspflegerin war riesig und obwohl die Frau sich Mühe gegeben hatte, es mit Zimmerpalmen und Urlaubskitsch zuzumüllen, hätte man immer noch Purzelbäume darin schlagen können. Auf seine Weise illustrierte auch dieser Raum die Trostlosigkeit der Arbeitswelt: Es war der blanke Eskapismus, der einen von den Wänden ansprang. Alles, was in diesem Zimmer versammelt war, machte deutlich, daß diese Frau ihre Arbeit sehr ungern machte. Das Tüpfelchen auf dem i war das zwanghaft gutgelaunte Programm eines lokalen Radiosenders, das die Tristesse akustisch vervollständigte. Ich könnte unter dem Einfluß solcher Dauerberieselung mit geistigem Durchfall nicht einen klaren Gedanken fassen. – Meine Hoffnung, es könnte hier eine schlüssige Klageschrift entstehen, schwand in dieser Umgebung.

Zu meiner Überraschung nahm die Frau dann aber Fahrt auf. Je länger sie über meiner Sache saß, desto mehr engagierte sie sich. Und am Ende konnte ich eine Klage unterzeichnen, die – zumindest für mich als Laien – sehr überzeugend wirkte.