Freitag, 31. Juli 2015
J'accuse (Teil 1)
Schon seit mindestens zwei Jahren vor meiner Freisetzung habe ich hin und wieder über die Möglichkeit nachgedacht, mich einzuklagen: Pressemeldungen über einschlägige Erfolge vor den Arbeitsgerichten ließen die Aussichten für eine solche Klage immer günstiger erscheinen. Daß ich es nicht versucht habe, hatte wesentlich drei Gründe: (a) ich war objektiv noch nicht lange genug dabei, um aus dem Wagnis eine einigermaßen sichere Sache zu machen (auch wenn ich in diesem kurzen Zeitraum eine sehr große Zahl an Verträgen erhalten hatte), (b) da ich keine Rechtsschutzversicherung hatte, scheute ich das finanzielle Risiko und (c) war mir natürlich klar, daß ich - sollte ich mit meiner Klage scheitern - nie wieder an einer (staatlichen) Schule würde arbeiten können.

Daß ich mich entgegen dieser drei Vorbehalte dann doch entschieden habe, gegen das Land zu klagen, hatte ebenfalls drei Gründe: einerseits ging es mir gegen den Strich, mich von einem Arbeitgeber derart schäbig behandeln zu lassen, andererseits wurde ich von vielen Menschen in meiner Umgebung ermuntert, mich wenigstens einmal beraten zu lassen - und am Ende war ich zu schwach, das Ganze wieder zu stoppen, nachdem ich den ersten Schritt gemacht hatte.

Dieser erste Schritt war die Inanspruchnahme der Rechtsberatung des Anwaltsvereins. Diese hochlobenswerte Institution hat ihren Sitz in einem der hiesigen Gerichtsgebäude. Täglich können hier Bürger, die sich den Gang zum Anwalt nicht leisten können, gegen eine geringe Gebühr Rat in juristischen Fragen erhalten. Die Beurteilung meines Falles war genau so, wie ich erwartet hatte: Die Anwältin, der ich gegenübersaß, war empört über den Umgang des Landes mit seinen Vertretungslehrern, erstaunt darüber, daß das ein Mensch überhaupt so lange mitmacht und bezüglich der Erfolgsaussichten einer Klage auf Weiterbeschäftigung ziemlich vorsichtig. Als sie hörte, daß ich die Kosten des Verfahrens selbst stemmen müßte, merkte sie auf: Da könnten recht erhebliche Beträge auf mich zukommen. Aber: Wenn ich die Klageschrift selbst vorbereitete und beim Arbeitsgericht einreichte, könnte ich für relativ geringes Geld zumindest eine Einschätzung meiner Sache im Rahmen eines Gütetermins erhalten – und dann immer noch entscheiden, ob ich ein Verfahren anstrengen wollte.

Mit den Hinweisen, die mir die Anwältin der Rechtsberatung gegeben hatte, setzte ich mich am folgenden Tag an den Computer, suchte die einschlägigen Seiten im Internet auf und hatte schließlich die entsprechenden Formblätter und Formulierungshilfen, um zur Tat zu schreiten. Als erstes fertigte ich eine Übersicht meiner Arbeitsverträge an. Das war der schwierige Teil der Arbeit, weil im einzelnen nicht immer offensichtlich war, welches Schriftstück sich an welches andere anschloß und welchen Gegenstand es konkret hatte: Es gab Arbeitsverträge, Änderungsverträge und Verlängerungen. Manche schlossen aneinander an, manche ersetzten ihren Vorgänger noch in dessen Laufzeit, einmal waren auch zwei Verträge auf ein und denselben Tag datiert, weil man anscheinend nicht in der Lage gewesen war, zwei Änderungstatbestände in einem Dokument zu vereinen.

In diesem Zusammenhang recherchierte ich erstmals, wen ich nach Vertragslage eigentlich vertreten hatte. Es war ein buntes Durcheinander: Ich hatte Englisch- und Französischlehrer ebenso vertreten wie Geschichts- und PoWi-Lehrer, hatte Kollegen aus der Biologie und der Chemie vertreten, aber auch Mathematik-, Erdkunde- und Kunstlehrer. Nur ein Sportlehrer war nie darunter gewesen, obwohl ich doch von Anfang an Sport unterrichtet hatte. Erst ganz am Ende – und das sollte mit Blick auf meine Klage zu einem Problem werden, hatte ich tatsächlich eine Ethiklehrerin vertreten, während ich Ethik unterrichtet hatte.

Man mag sich fragen, warum ich diese Vertretungspraxis nie in Frage gestellt hatte. Nun, ich hatte davon profitiert, denn nur auf diese Art und Weise war es meiner Schule möglich gewesen, mich weiter zu beschäftigen. – Hätte es mich früher interessiert, wäre meine Klage wohl eine sichere Sache gewesen.

Nachdem ich die Übersicht erstellt hatte, machte ich mich an die Formulierung der Klage. Dazu gab es ein Formblatt und einige Hinweise darauf, was unbedingt in der Klageschrift erwähnt werden müsse.

Die Rechtspflegerin, bei der ich mit diesen Unterlagen vorstellig wurde, war zunächst vollkommen unbeeindruckt. Gelangweilt hörte sie sich mein Anliegen an und blätterte dann in einer zerlesenen Ausgabe der einschlägigen Gesetze herum, um zu erkunden, auf welcher Grundlage und mit welchen Argumenten sich eine Klage formulieren ließe.
Ich nutzte die Zeit und sah mich um. Das Büro der Rechtspflegerin war riesig und obwohl die Frau sich Mühe gegeben hatte, es mit Zimmerpalmen und Urlaubskitsch zuzumüllen, hätte man immer noch Purzelbäume darin schlagen können. Auf seine Weise illustrierte auch dieser Raum die Trostlosigkeit der Arbeitswelt: Es war der blanke Eskapismus, der einen von den Wänden ansprang. Alles, was in diesem Zimmer versammelt war, machte deutlich, daß diese Frau ihre Arbeit sehr ungern machte. Das Tüpfelchen auf dem i war das zwanghaft gutgelaunte Programm eines lokalen Radiosenders, das die Tristesse akustisch vervollständigte. Ich könnte unter dem Einfluß solcher Dauerberieselung mit geistigem Durchfall nicht einen klaren Gedanken fassen. – Meine Hoffnung, es könnte hier eine schlüssige Klageschrift entstehen, schwand in dieser Umgebung.

Zu meiner Überraschung nahm die Frau dann aber Fahrt auf. Je länger sie über meiner Sache saß, desto mehr engagierte sie sich. Und am Ende konnte ich eine Klage unterzeichnen, die – zumindest für mich als Laien – sehr überzeugend wirkte.