Donnerstag, 30. Juli 2015
Das Amt
Da mein letzter Arbeitsvertrag nur zwei Monate umfaßt hatte und ich lange Zeit nicht wahrhaben wollte, daß es keine weitere Verlängerung geben würde, habe ich mich erst kurz vor dem Auslaufen dieses Vertrage arbeitslos gemeldet. Ich hatte damit gerechnet, daß das Ärger geben würde, aber keine von den Damen mit denen ich bei der Arbeitsagentur zu tun bekam, schien das in irgendeiner Weise zu interessieren. Freundlich wurde ich überall empfangen, gerade so, als habe man mich schon lange erwartet und irgendwie auch vermißt. Das harte Ende kam dann in der Gestalt eines Konvoluts von Fragebögen, die auszufüllen viel Zeit und Nerven kostete.

Dann bekam ich eine Einladung zu einem Gespräch über meine berufliche Zukunft. Da es sich um eine Einladung „nach §309 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in Verbindung mit §159 SGB III“ handelte, war ihr eine Rechtsfolgebelehrung beigefügt. Die habe ich nicht gelesen. Der schwarze Rand, der sie umgab und die Tatsache, daß einige Sätze unterstrichen waren, gaben mir Anlaß zu der Vermutung, daß hier Widerstand zwecklos war. – Außerdem hatte ich ja Zeit.

Also ging ich mich am fraglichen Tag in die örtliche Filiale der Arbeitsagentur. Als ich in den ersten Stock hinaufgestiegen war und den Flur betrat, in dem sich die Sprechzimmer der Akademikerberatung befinden, bemerkte ich sofort den Unterschied zum übrigen Betrieb: Hier herrschte Ruhe. Niemand lungerte auf den Gängen herum oder plärrte in sein Handy. Auch waren keine Kinder zu sehen – oder gar zu hören. Es war offensichtlich, daß hier keine Massenabfertigung stattfand. Hier wurde nicht das Elend verwaltet, von dem im Empfangsbereich der Agentur reichlich zu sehen gewesen war, sondern einer kleinen aber feinen Elite Unterstützung bei der weiteren Karriereplanung angeboten. Es beruhigte mich ungemein, daß man offensichtlich der Auffassung war, ich sei dieser Elite zuzurechnen.

Ich war – wie immer – überpünktlich. Um nicht unnötig Zeit zu vergeuden, klopfte ich also an der Tür meines Beraters, öffnete sie, streckte den Kopf hindurch und stellte mich dem ebenso überrascht wie ertappt dreinblickenden Herr, der drinnen am Schreibtisch saß, vor: Wenn er soweit sei, könnten wir loslegen, ich wäre jetzt da.

Als ich schließlich hereingerufen wurde, zeigte sich schnell, daß hier nun ein anderer Wind wehte als in den Gesprächen, die ich bisher geführt hatte. Mein Berater war ungehalten, daß ich bisher keine Notwendigkeit gesehen hatte, ein Profil in der Jobbörse der Arbeitsagentur anzulegen. Und daß ich in einem der Fragebögen, die ich eingereicht hatte, im Feld „Das möchte ich mit meinem Berater besprechen“ ein Fragezeichen gemacht hatte, schien ihn fast zu beleidigen. Dabei war ich einfach nur ehrlich gewesen: Angesichts meiner vollkommenen Ratlosigkeit bezüglich einer künftigen Tätigkeit, hatte ich keine Idee, was ich mit einem Berater besprechen könnte.

Aber wir waren auch so erst einmal beschäftigt. Eine knappe Stunde hat es gedauert, bis wir die Daten, die von den vorgeschalteten Sachbearbeiterinnen schon aufgenommen worden waren, gemeinsam korrigiert bzw. erneut eingegeben hatten. Das Ergebnis dieser Prozedur war überraschenderweise nicht nur ein Lebenslauf, also eine Übersicht über das, was bisher tatsächlich gewesen ist, sondern auch ein Stellengesuch, d. h. eine normative Aussage darüber, was ich für die Zukunft anstreben sollte: nämlich eine Vollzeitbeschäftigung als Gymnasiallehrer.

Wer die Beschreibung meiner Ausbildung oben aufmerksam gelesen hat, wird über dieses Resultat ebenso verwundert sein, wie ich es war, als mein Berater es mir verkündete: Ohne entsprechende Staatsexamina eine Festanstellung an einer Schule anzustreben ist ziemlich ambitioniert! – Daß in dem ganzen Gespräch nicht einmal die Sprache darauf kam, ob ich überhaupt Lust hätte, weiter als Lehrer zu arbeiten, hat mich zwar irgendwie geärgert, weil mir aber letztlich klar wurde, daß es bei dem, was wir da machten, weniger darum ging, eine realistische Option zukünftiger Erwerbstätigkeit zu identifizieren, als vielmehr darum, formal den Ansprüchen der Arbeitsagentur zu genügen, habe ich hierauf nicht insistiert.

Ich habe das Spiel also mitgespielt und das Beratungsgespräch entwickelte sich zu einer kurzweiligen Plauderei. Allerdings habe ich den Bogen einmal, kurz vor Schluß, überspannt, als mein Berater fragte, ob es irgendwelche – vielleicht gesundheitlichen – Gründe gebe, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstünden und ich nur halb im Scherz zurückgab, nein, es sei denn er lasse meine unüberwindbare Abneigung gegen jede Art von Erwerbstätigkeit gelten. Das fand er irgendwie nicht lustig.

Am Ende legte er mir dann eine Wiedereingliederungsvereinbarung vor, die wir uns wechselseitig abzeichneten, obwohl ich der Einzige war, der sich zu irgendetwas verpflichten mußte. In gewisser Weise bekommt man hiermit die Instrumente vorgezeigt, damit man nicht auf die Idee kommt, sich in der Arbeitslosigkeit zu gemütlich einzurichten.

Außerdem gab er noch zwei Dinge mit auf den Weg: (1) einen Vermittlungsvorschlag (!) als Lehrer einer privaten Reformschule und (2) eine „Einladung“ zu einer Maßnahme.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Nachdem ich diese ersten Hürden genommen hatten, durfte ich noch ein drittes Mal bei der Agentur für Arbeit vorsprechen, um zu erfahren, wie viel Geld ich für die nächsten zwölf Monate erhalten würde. Diesem Termin habe ich mit großer Sorge entgegengesehen, weil ich befürchtete, man würde mir meine Nebeneinkünfte größtenteils vom Arbeitslosengeld abziehen.

Die Dame, die meinen Vorgang zu bearbeiten hatte, war aufgeräumt und ausgesprochen guter Dinge. Es schien ihr gut zu gehen, obwohl sie in einem Büro saß, dessen Trostlosigkeit irgendwie boshaft wirkte. Es war ein L-förmiger Schuhkarton, dessen absurde Höhe nicht licht und luftig, sondern vielmehr einschüchternd wirkte. Weil der Raum wohl die Norm für eine Person übererfüllte, hatte man ihr die freien Flächen mit offensichtlich ausrangierten Schränken zugestellt. Beim Anblick der obligatorischen Kinderfotos, schoß mit der Gedanke durch den Kopf, es möchte nicht die bedauernswerte Frau sie dort aufgehängt haben, um sich ihrer Lieben zu erfreuen, sondern ihr Arbeitgeber. Nämlich um sie daran zu erinnern, daß die Kleinen nur so lange etwas zu lachen haben, wie sie klaglos ihren Job macht.

Als die Sachbearbeiterin sah, welche womit ich im Unterricht beschäftigt gewesen war, hatten wir sofort ein Gesprächsthema, denn auch in ihrer Familie wurde entsprechend gearbeitet. Da ich schon immer in mehreren Jobs nebeneinander gearbeitet hatte, war die Erhöhung der entsprechenden Freibeträge reine Formsache – und meine Befürchtungen unbegründet. Ehe ich mich recht versah, hatte ich meinen (wenn auch vorläufigen) Bescheid in der Tasche und damit die Gewißheit, auch zukünftig über so ausreichende Mittel zu verfügen, daß ich nicht gleich ans Gesparte gehen mußte. Das war Grund genug erst einmal ein nahegelegenes Café aufzusuchen und der Sonne zwei Stunden beim Wandern zuzusehen.



La Dolce Vita
Nun hatte ich also frei. Ich mußte keinen Unterricht mehr vorbereiten, nicht mehr im Klassenraum stehen und keine Klausuren mehr korrigieren. Stattdessen verbrachte ich ganze Vormittage damit, die Zeitung von vorne bis hinten zu studieren.

Ich machte ausgedehnte Spaziergänge, ließ mich hin und her durch die Stadt treiben, entdeckte Neues und suchte Altvertrautes; und mit schöner Regelmäßigkeit saß ich schließlich im Café und blickte hinaus auf den Fluß, dessen langsam aber beständig wechselnde Szenerie hinreichte, einen Nachmittag zu füllen.

Ich hörte Musik. Endlich wieder einmal ganze Opern am Stück. Oder Beethovens Klaviersonaten: Einfach eine nach der anderen weg. Vom Internet und seinem schier unerschöpflichen Fundus obskurer Klänge gar nicht zu reden!

Dann waren da all die Bücher, die ich noch nicht gelesen hatte. Und die, die ich wieder lesen wollte. Die Filme, die Ausstellungen und und und … Es war unglaublich, was mir das Leben zu bieten hatte, seit ich mich nicht mehr in dieser Tretmühle befand.

Auf den ersten Blick mag die Leichtigkeit, mit der ich mein Arbeitslosendasein anging erstaunen. Möglicherweise würde der eine oder andere mich auch tadeln und es als unverantwortlich bezeichnen, daß ich mich nicht umgehend auf die Suche nach einer neuen Stelle gemacht habe. Dazu gibt es zwei Dinge zu bemerken: Zum einen war ich der Auffassung, daß die Tatsache, daß man mich vor den Ferien entlassen hatte, kein hinreichender Grund war, nicht doch Ferien zu machen – immerhin hatte ich ja das ganze Jahr gearbeitet. Zum anderen – und das wog viel schwerer – gab mir das Arbeitslosengeld eine Sicherheit, die ich als Arbeitnehmer so nie gehabt hatte: Gemessen an der ständigen und schnellen Abfolge kurzfristiger Arbeitsverträge in der Schule war die Aussicht, ein ganzes Jahr versorgt zu sein, sehr beruhigend.

Durch die Arbeitslosigkeit war mein Leben tatsächlich erst einmal reicher geworden. Ich empfing eine Vielzahl neuer Impulse, und ich hatte endlich den Freiraum, den ich benötigte, um die Möglichkeiten einer zukünftigen Berufstätigkeit auszuloten. Ich skizzierte also Ideen für Projekte und schrieb Exposés. Das eine oder andere wäre vielleicht durchaus erfolgversprechend gewesen – wenn ich irgendwie institutionell eingebunden gewesen wäre. So aber stellte sich immer wieder die Frage, wer so etwas finanzieren sollte.

Deshalb begann ich auch, mich für Stellenausschreibungen zu interessieren. Aber das hätte ich besser bleiben lassen. Bei den meisten Annoncen hätte ich nicht einmal mit Sicherheit sagen können, was für eine Art von Tätigkeit sich hinter den phantasievollen und imponierenden Berufsbezeichnungen verbarg. Wenn die detaillierte Beschreibung im Anzeigentext tatsächlich den Sachverhalt aufklärte, verflog der Charme des ersten Eindrucks recht schnell: Das meiste klang ziemlich albern.

Die einzige Erkenntnis, die sich aus diesem Prozedere gewinnen ließ, war die, daß die Qualifikationen, die ich nachweisen konnte, nicht gefragt waren. Und die Fähigkeiten, die eventuell verwertbar gewesen wären, konnte ich nicht belegen. Außerdem war ich für fast alles schon zu alt, von der fehlenden Erfahrung ganz zu schweigen...

Das hatte ich natürlich geahnt. Und wenn ich mich so zögerlich nur der Aufgabe genähert hatte, eine neue Stelle zu finden und stattdessen das Leben genossen hatte, so war dies zu einem guten Teil eine Flucht vor einer Ernüchterung, die sich zwangsläufig einstellen mußte.