La Dolce Vita
Nun hatte ich also frei. Ich mußte keinen Unterricht mehr vorbereiten, nicht mehr im Klassenraum stehen und keine Klausuren mehr korrigieren. Stattdessen verbrachte ich ganze Vormittage damit, die Zeitung von vorne bis hinten zu studieren.

Ich machte ausgedehnte Spaziergänge, ließ mich hin und her durch die Stadt treiben, entdeckte Neues und suchte Altvertrautes; und mit schöner Regelmäßigkeit saß ich schließlich im Café und blickte hinaus auf den Fluß, dessen langsam aber beständig wechselnde Szenerie hinreichte, einen Nachmittag zu füllen.

Ich hörte Musik. Endlich wieder einmal ganze Opern am Stück. Oder Beethovens Klaviersonaten: Einfach eine nach der anderen weg. Vom Internet und seinem schier unerschöpflichen Fundus obskurer Klänge gar nicht zu reden!

Dann waren da all die Bücher, die ich noch nicht gelesen hatte. Und die, die ich wieder lesen wollte. Die Filme, die Ausstellungen und und und … Es war unglaublich, was mir das Leben zu bieten hatte, seit ich mich nicht mehr in dieser Tretmühle befand.

Auf den ersten Blick mag die Leichtigkeit, mit der ich mein Arbeitslosendasein anging erstaunen. Möglicherweise würde der eine oder andere mich auch tadeln und es als unverantwortlich bezeichnen, daß ich mich nicht umgehend auf die Suche nach einer neuen Stelle gemacht habe. Dazu gibt es zwei Dinge zu bemerken: Zum einen war ich der Auffassung, daß die Tatsache, daß man mich vor den Ferien entlassen hatte, kein hinreichender Grund war, nicht doch Ferien zu machen – immerhin hatte ich ja das ganze Jahr gearbeitet. Zum anderen – und das wog viel schwerer – gab mir das Arbeitslosengeld eine Sicherheit, die ich als Arbeitnehmer so nie gehabt hatte: Gemessen an der ständigen und schnellen Abfolge kurzfristiger Arbeitsverträge in der Schule war die Aussicht, ein ganzes Jahr versorgt zu sein, sehr beruhigend.

Durch die Arbeitslosigkeit war mein Leben tatsächlich erst einmal reicher geworden. Ich empfing eine Vielzahl neuer Impulse, und ich hatte endlich den Freiraum, den ich benötigte, um die Möglichkeiten einer zukünftigen Berufstätigkeit auszuloten. Ich skizzierte also Ideen für Projekte und schrieb Exposés. Das eine oder andere wäre vielleicht durchaus erfolgversprechend gewesen – wenn ich irgendwie institutionell eingebunden gewesen wäre. So aber stellte sich immer wieder die Frage, wer so etwas finanzieren sollte.

Deshalb begann ich auch, mich für Stellenausschreibungen zu interessieren. Aber das hätte ich besser bleiben lassen. Bei den meisten Annoncen hätte ich nicht einmal mit Sicherheit sagen können, was für eine Art von Tätigkeit sich hinter den phantasievollen und imponierenden Berufsbezeichnungen verbarg. Wenn die detaillierte Beschreibung im Anzeigentext tatsächlich den Sachverhalt aufklärte, verflog der Charme des ersten Eindrucks recht schnell: Das meiste klang ziemlich albern.

Die einzige Erkenntnis, die sich aus diesem Prozedere gewinnen ließ, war die, daß die Qualifikationen, die ich nachweisen konnte, nicht gefragt waren. Und die Fähigkeiten, die eventuell verwertbar gewesen wären, konnte ich nicht belegen. Außerdem war ich für fast alles schon zu alt, von der fehlenden Erfahrung ganz zu schweigen...

Das hatte ich natürlich geahnt. Und wenn ich mich so zögerlich nur der Aufgabe genähert hatte, eine neue Stelle zu finden und stattdessen das Leben genossen hatte, so war dies zu einem guten Teil eine Flucht vor einer Ernüchterung, die sich zwangsläufig einstellen mußte.